Digitale Barrierefreiheit

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Digital barrierefrei ist ein informationstechnisches System oder eine Informationsquelle, wenn es/sie auffindbar, zugänglich und nutzbar ist. In juristischen Texten wird digitale Barrierefreiheit als „Barrierefreiheit in der Informationstechnik“ bezeichnet. Im Vergleich zur Barrierefreiheit der bebauten Umwelt (barrierefreie Umweltgestaltung), sind „digitale Barrierefreiheit“ und „Barrierefreiheit in der Informationstechnik“ Begriffe, die sich erst Mitte der 1990er Jahre etabliert haben.

Zum Begriff „informationstechnisches System“

Als Informationstechnisches System kann jedes System verstanden werden, das elektronische Daten verarbeitet. Informationstechnische Systeme können aus folgenden Komponenten bestehen:

  • Hardware (einem Gerät),
  • Software (Firmware, Betriebssystem, Treibersoftware, Anwendungsprogramme) und
  • zugehörigen Daten (die in Form von Dokument-, Bild-, Audio-, Video- oder Datenbankdateien bzw. als Webseiten vorliegen können).

Unter informationstechnische Systeme fallen somit klassische Computer und Laptops ebenso wie Handys, Smartphones und Tablets, aber auch Geld- und Fahrkartenautomaten, Info- und Bezahlterminals, E-Book-Reader und vieles mehr. Sofern Haushaltsgeräte (weiße Ware) oder Geräte der Unterhaltungselektronik (braune Ware) mit einem Mikroprozessor ausgestattet sind, von einer Betriebssoftware gesteuert und über eine elektronische Benutzerschnittstelle bedient werden, müssen auch sie zu informationstechnischen Systemen gezählt werden. Nach der Auffassung des Bundesjustizministeriums ist auch das gesamte Internet ein informationstechnisches System.

Entscheidend ist: Mit einem Informationstechnischen System müssen auch seine Komponenten – die Hardware, die Software sowie die anfallenden Daten – barrierefrei sein.

Digitale Barrierefreiheit als Zustand oder Prozess

Digitale Barrierefreiheit kann einerseits als Zustand, andererseits als Prozess aufgefasst werden:

  • Im Sinne eines Zustands ist Sie die Abwesenheit jeglicher Hürden, die es Menschen mit einer Einschränkung / Behinderung erschweren oder verunmöglichen, Zugang zu digitalen Produkten und Dienstleistungen zu haben bzw. diese zu nutzen, das heißt, sie aufzufinden, wahrzunehmen, zu bedienen und zu verstehen.
  • Im Sinne eines Prozesses ist digitale Barrierefreiheit ein Vorgang, bei dem für Menschen mit Einschränkungen unter Zuhilfenahme konkreter Bewertungskriterien einerseits bereits existierende Hürden abgebaut, andererseits potentielle zukünftige Hürden vermieden werden, die dem Zugang und der Nutzung digitaler Produkte und Dienstleistungen entgegenstehen.

Die interaktionistische Auffassung digitaler Barrieren

Digitale Barrieren existieren – wie alle Barrieren – nicht absolut; sie entstehen im Wechselspiel zwischen den individuellen Fähigkeiten und Einschränkungen einer Person und den vorhandenen Umweltbedingungen. Beispiel: Ein nicht unterfahrbarer, aber mit einer Sprachausgabe ausgestatteter Geldautomat stellt zwar für Menschen mit Blindheit keine, für Personen im Rollstuhl jedoch eine erhebliche Barriere dar. Wäre der Geldautomat umgekehrt zwar unterfahrbar, jedoch ausschließlich visuell über einen Touchscreen bedienbar, würde er für Menschen im Rollstuhl keine, dafür aber für blinde Personen eine erhebliche Barriere sein.

Der allgemeine gesetzliche Barrierefreiheitsbegriff im BGG

Die maßgebliche gesetzliche Definition von Barrierefreiheit im Allgemeinen – und somit von digitaler Barrierefreiheit im Speziellen – findet sich in §4 des Gesetzes des Bundes zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (Behinderten-Gleichstellungsgesetz des Bundes, BGG) und lautet:

Barrierefrei sind bauliche und sonstige Anlagen, Verkehrsmittel, technische Gebrauchsgegenstände, Systeme der Informationsverarbeitung, akustische und visuelle Informationsquellen und Kommunikationseinrichtungen sowie andere gestaltete Lebensbereiche, wenn sie für Menschen mit Behinderungen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe auffindbar, zugänglich und nutzbar sind. Hierbei ist die Nutzung behinderungsbedingt notwendiger Hilfsmittel zulässig.

Das BGG ist seit dem Jahr 2002 in Kraft und wird immer wieder an aktuelle gesetzliche Rahmenbedingungen angepasst. In keinem anderen Bundesgesetz findet sich eine Behinderungsdefinition, die in Konflikt zu derjenigen des BGG steht. Allerdings muss es aufgrund des föderalen Prinzips in den einzelnen Bundesländern Landes-Gleichstellungsgesetze geben. Diese enthalten teilweise vom Bundes-BGG abweichende Barrierefreiheits-Definitionen.

Extrahiert man die im Zusammenhang mit Informationstechnik relevanten Inhalte, kann die gesetzliche Barrierefreiheitsdefinition wie folgt zu einer Definition für digitale Barrierefreiheit verdichtet werden:

Digital barrierefrei sind technische Gebrauchsgegenstände, Systeme der Informationsverarbeitung, akustische und visuelle Informationsquellen und Kommunikationseinrichtungen, wenn sie für Menschen mit Behinderungen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe auffindbar, zugänglich und nutzbar sind. Hierbei ist die Nutzung behinderungsbedingt notwendiger Hilfsmittel zulässig.

Näheres regelt die BITV 2.0 als Verordnung

Die gesetzliche Barrierefreiheitsdefinition ist absichtlich sehr allgemein gehalten und verzichtet bewusst sowohl auf eine Aufzählung konkreter digitaler Barrieren als auch auf die Festlegung von Methoden und Verfahren, wie diese Barrieren erkannt, bewertet und beseitigt werden sollten. Dies liegt daran, dass die betroffenen digitalen Produkte und Dienstleistungen kontinuierlich und in hohem Tempo weiterentwickelt werden bzw. sich ständig wandeln. Aber auch die zur Überwindung von Barrieren geschaffene Hilfstechnologie entwickelt sich stetig fort. Konkrete Regelungen zu einzelnen Bereichen der digitalen Barrierefreiheit sind deshalb in Verordnungen „ausgelagert“. Erlass, Durchsetzung und Kontrolle einer solchen Verordnungen obliegt einem im BGG festgelegten (Bundes)-Ministerium. Dieses Ministerium ist vom Gesetz her sowohl befugt als auch verpflichtet, die von ihm erlassenen Verordnungen in regelmäßigen Abständen auf Wirksamkeit und Aktualität zu prüfen und sie gegebenenfalls anzupassen. Bezogen auf digitale Barrierefreiheit Enthält Abschnitt 2a des Bundes-Behindertengleichstellungsgesetzes allgemeine Regelungen zu barrierefreier Informationstechnik öffentlicher Stellen des Bundes. Zur Ausformulierung von Einzelheiten gibt es in §12d BGG eine Verordnungsermächtigung, die das Bundesministerium für Soziales berechtigt, eine entsprechende Verordnung zu erlassen. Diese Verordnung, die den Namen „Verordnung zur Schaffung barrierefreier Informationstechnik nach dem Behindertengleichstellungsgesetz“ (Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung, BITV) trägt, ist seit 2004 in Kraft, wurde im Jahre 2011 als „BITV 2.0“ umfangreich aktualisiert und zuletzt im Mai 2019 geändert.

Kerninhalte der BITV 2.0

Ziele (§ 1 BITV 2.0):

  1. Eine umfassende und grundsätzlich uneingeschränkt barrierefreie Gestaltung moderner Informations- und Kommunikationstechnik zu ermöglichen und zu gewährleisten,
  2. Informationen und Dienstleistungen öffentlicher Stellen, die elektronisch zur Verfügung gestellt werden, sowie elektronisch unterstützte Verwaltungsabläufe mit und innerhalb der Verwaltung, einschließlich der Verfahren zur elektronischen Aktenführung und zur elektronischen Vorgangsbearbeitung, für Menschen mit Behinderungen zugänglich und nutzbar zu gestalten.

Geltungsbereich (§ 2 BITV 2.0):

  1. Websites,
  2. mobile Anwendungen,
  3. elektronisch unterstützte Verwaltungsabläufe, einschließlich der Verfahren zur elektronischen Vorgangsbearbeitung und elektronischen Aktenführung,
  4. grafische Programmoberflächen.

Von der Anwendung ausgenommen (§ 2 BITV 2.0):

  1. Reproduktionen von Stücken aus Kulturerbesammlungen, wenn ihre Zugänglichmachung die Integrität bzw. Authentizität des Stückes gefährden würde oder kosteneffizient bzw. automatisiert nicht möglich ist,
  2. Archive, die weder Inhalte enthalten, die für aktive Verwaltungsverfahren benötigt werden, noch nach dem 23. September 2019 aktualisiert oder überarbeitet wurden,
  3. Inhalte von Websites und mobilen Anwendungen von Rundfunkanstalten des Bundesrechts, die der Wahrnehmung eines öffentlichen Sendeauftrags dienen.

Begriffsdefinitionen (§ 2a BITV 2.0):

  1. Websites sind Auftritte, die mit Webtechnologien, beispielsweise HTML, erstellt wurden, über eine individuelle Webadresse erreichbar sind und mit einem Nutzeragenten, beispielsweise Browser, wiedergegeben werden können. Zum Inhalt von Websites gehören textuelle und nicht textuelle Informationen sowie Interaktionen, integrierte Inhalte in unterschiedlichen Formaten, beispielsweise Dokumente, Videos, Audiodateien, sowie integrierte Funktionalitäten, beispielsweise Formulare, Authentifizierungs-, Identifizierungs- und Zahlungsprozesse. Umfasst sind auch solche Websites, die sich ausschließlich an einen abgegrenzten Personenkreis richten, wie Intranets oder Extranets.
  2. Mobile Anwendungen sind Programme, die auf mobilen Geräten, beispielsweise Smartphones und Tablets, installiert werden. Nicht dazu gehören Betriebssysteme und Hardware, auf denen die mobile Anwendung betrieben wird. Integrierte Inhalte in unterschiedlichen Formaten, beispielsweise Dokumente, Videos, Audiodateien, sind Bestandteile der mobilen Anwendungen.
  3. Elektronisch unterstützte Verwaltungsabläufe sind Verfahren, die im Rahmen des Verwaltungshandelns intern oder extern angewandt werden und sich der Informations- und Kommunikationstechnik bedienen. Hierzu zählen insbesondere Verfahren zur elektronischen Vorgangsbearbeitung und der elektronischen Aktenführung. Integrierte Inhalte in unterschiedlichen Formaten, beispielsweise Dokumente, Videos, Audiodateien, sind Bestandteile der elektronisch unterstützten Verwaltungsabläufe.
  4. Elektronische Vorgangsbearbeitung ist die Unterstützung von Geschäftsprozessen und Verwaltungsabläufen durch Informations- und Kommunikationstechnik. Dazu zählen unter anderem
    1. die Zuweisung und der Transport von Dokumenten an bearbeitende Personen,
    2. die Bearbeitung dieser Dokumente,
    3. die Darstellung von Prozessen, Organigrammen und Verantwortlichkeiten,
    4. die Terminplanung und
    5. die Protokollierung.
  5. Elektronische Aktenführung ist die systematische und programmgestützte Vorhaltung und Nutzung von Dokumenten in elektronischer Form, beispielsweise mittels eines Dokumentenmanagementsystems.
  6. Grafische Programmoberflächen sind webbasierte und nicht webbasierte Anwendungen einschließlich der grafischen Nutzerschnittstellen auf zweidimensionalen Bildschirmen und Displays sowie grafischen Nutzerschnittstellen in dreidimensionalen virtuellen Repräsentationen oder in Echtzeit-Raum-Repräsentationen.

Die BITV 2.0 verweist dynamisch auf harmonisierte Normen

Eine Verordnung kann – muss jedoch nicht – sämtliche Details zu den entsprechenden Fragen der digitalen Barrierefreiheit enthalten. In früheren Fassungen enthielt die BITV 2.0 in Anlage 1 konkrete Anforderungen und Bedingungen, nach denen Intra- und Internetseiten barrierefrei gestaltet werden sollten. Diese Anlage existiert in der aktuellen Fassung der BITV nicht mehr. Die konkreten Anforderungen zur Barrierefreiheit von Intra- und Internetseiten aus der ehemaligen Anlage 1 wurden ersetzt durch eine dynamische Verweisung auf sogenannte „harmonisierte Normen“. Eine Norm gilt als „harmonisiert“, wenn sie ganz oder in Teilen im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht wurde. Eine Norm, die diese Anforderung erfüllt, ist eine Beschaffungsnorm mit dem Namen „Barrierefreiheitsanforderungen für IKT-Produkte und -Dienstleistungen“ (EN 301 549). Konkrete Regelungen, die noch getroffen werden, betreffen die Bereitstellung von Gebärdensprache und leichter Sprache im Internet und Intranet. Sie sind in der Anlage 2 zur BITV festgeschrieben.

Die EN 301 549 und ihr Bezug zu den WCAG 2.1

Die in der BITV 2.0 referenzierte europäische Beschaffungsnorm EN 301 549 enthält in ihren Kapiteln 8 bis 11 detaillierte Zugänglichkeitsrichtlinien für barrierefreie Hardware, Software, Dokumente und Webseiten. Diese sind jedoch nicht speziell für diese Norm formuliert worden, sondern stammen zum großen Teil aus den Richtlinien für barrierefreie Webinhalte (Web Content Accessibility Guidelines; WCAG 2.1). Dieser Bezug macht sich sogar in der Feingliederung der EN-Kapitel 9 (Web), 10 (Nicht-Web-Dokumente) und 11 (Software) bemerkbar: Die Kapitel-Strukturierung orientiert sich an den übergeordneten Prinzipien „wahrnehmbar“, „bedienbar“, „verständlich“ und „robust“ der WCAG. In Kapitel 11 (Software) der EN 301 549 finden sich auch nahezu alle verbindlichen Anforderungen aus der Norm DIN EN ISO 9241-171 „Ergonomie der Mensch-System-Interaktion – Teil 171: Leitlinien für die Zugänglichkeit von Software“ wieder. Dass sich die EN 301 549 auch in den Kapiteln 10 und 11 an ursprünglich für die barrierefreie Gestaltung von Webseiten entwickelten Kriterien orientiert liegt daran, dass sich diese Leitlinien aufgrund ihrer technikneutralen Formulierung weitestgehend auf die Bereiche Software und Dokumente außerhalb des World Wide Web übertragen lassen. Die EN 301 549 liegt auch als DIN-Norm in deutscher Sprache vor. Diese bezieht sich allerdings auf die ältere englischsprachige Version 2.1.2 vom August 2018. Die aktuell EU-weit gültige Version 3.2.1 der EN 301 549 gibt es momentan (Oktober 2021) unter dem Titel „Accessibility requirements for ICT products and services“ nur in englischer Sprache; ihre deutsche Übersetzung und damit die Überführung in eine DIN-Norm, wird für den Spätherbst 2021 erwartet. Die Version 3.2.1 wird ihrerseits allerdings schon in 2022 erneut überarbeitet werden, um sie an die Anforderungen anzupassen, die sich aus dem sogenannten „European Accessibility Act“ (EAA = EU-Richtlinie 2019/882) ergeben. Dieser europäische Barrierefreiheits-Rechtsakt muss bis zum Juni 2022 in den EU-Staaten in geltendes Recht umgesetzt werden. In Deutschland wurde dazu das am 22.07.2021 verkündete „Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2019/882 des Europäischen Parlaments und des Rates über die Barrierefreiheitsanforderungen für Produkte und Dienstleistungen und zur Änderung anderer Gesetze“ (Barrierefreiheitsstärkungsgesetz, BFSG) geschaffen.

Die WCAG 2.1 liefert konkrete Kriterien

Die Richtlinien für barrierefreie Webinhalte (englischer Originaltitel: „Web Content Accessibility Guidelines“; WCAG) liegen seit Juni 2019 in der Version 2.1 – aktuell ausschließlich in englischer Sprache – vor (die Version 2.2 ist in Vorbereitung). Die Aktualisierung eines technischen Standards wie der WCAG ist oft wiederum der Anlass dafür, Normen wie die EN 301 549 zu überarbeiten. Mehr zu Aufbau und Inhalt der WCAG 2.1 im Abschnitt „Barrierefreiheit als Mehr-Ebenen-Ansatz“.

Internationales Recht motiviert gesetzliche Regelungen

In jüngerer Zeit werden immer mehr Regelungen hinsichtlich der digitalen Barrierefreiheit auf europäischer Ebene getroffen. Dies hat zum Einen behindertenpolitische Auswirkungen, weil eine Vielzahl betroffener Personen von neuartigen Regelungen profitieren kann; zum Anderen stehen hinter den getroffenen Vereinbarungen auch wirtschaftliche Überlegungen, denn nur in einem gesamteuropäischen Binnenmarkt, in dem einheitliche Regelungen zur Barrierefreiheit gelten, lassen sich Waren und Dienstleistungen, an die Barrierefreiheitsanforderungen gestellt werden, ungehindert verkaufen. Prominentes Beispiel für weitreichende Auswirkungen des europäischen Rechts sind:

EU-Richtlinien müssen von den Einzelstaaten bis zu einem vorgegebenen Stichtag in nationales Recht umgesetzt werden. Danach gelten Übergangsfristen, bis wann die unter den Geltungsbereich fallenden Inhalte barrierefrei umzusetzen sind. Die Richtlinie 2016/2102 trat in Deutschland im Juli 2018 in Kraft. Hierzu mussten das BGG des Bundes sowie die entsprechenden Landes-Gleichstellungsgesetze geändert werden. Die Richtlinie 2019/882 wird über das erwähnte Barrierefreiheitsstärkungsgesetz im Juni 2022 wirksam werden.

Einfordern, erklären, durchsetzen, überwachen, messen

In der Praxis nützen alle gut gemeinten Gesetze, Verordnungen und Richtlinien wenig, wenn:

  1. Menschen, die von Barrieren betroffen sind, diese nicht melden, Barrierefreiheit nicht einfordern bzw. den Barriere-Abbau nicht durchsetzen können und
  2. den zur Barrierefreiheit verpflichteten Stellen keine negativen Sanktionen drohen, wenn sie die gesetzlichen Regelungen nicht einhalten.

Die Umsetzung der EU-Richtlinie 2016/2102 in deutsches Recht hat in dieser Hinsicht in den folgenden acht Aspekten erhebliche Verbesserungen gebracht:

  1. Erweiterter Kreis der Verpflichteten: Zur Einhaltung von Barrierefreiheit verpflichtet sind öffentliche Stellen (des Bundes laut §12 BGG). Der Begriff „öffentliche Stelle“ ist weiter gefasst als der in früheren Fassungen des BGG benannte Kreis der „bundesunmittelbaren Körperschaften“.
  2. Erklärung zur Barrierefreiheit: Öffentliche Stellen des Bundes müssen seit Juni 2020 nach §12b Abs.1 BGG auf ihren Webseiten eine Erklärung zur Barrierefreiheit veröffentlichen. Nach §12b Abs.2 Nummer 1 benennt diese Erklärung alle Bereiche einer Webseite, die (noch) nicht barrierefrei gestaltet sind und erläutert bzw. begründet diesen Umstand. Details zur Ausgestaltung der Erklärung zur Barrierefreiheit regelt §7 BITV.
  3. Feedback-Mechanismus: Nach § 12b Abs.2 Nummer 2 BGG enthält die Erklärung zur Barrierefreiheit für die Nutzer auch „eine unmittelbar zugängliche barrierefrei gestaltete Möglichkeit, elektronisch Kontakt aufzunehmen, um noch bestehende Barrieren mitzuteilen und um Informationen zur Umsetzung der Barrierefreiheit zu erfragen“. Details zur Ausgestaltung des Feedback-Mechanismus regelt §7 BITV.
  4. Möglichkeit eines Schlichtungsverfahrens: Nach §16 Abs.1 BGG wird „bei der oder dem Beauftragten der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen [...] eine Schlichtungsstelle zur außergerichtlichen Beilegung von Streitigkeiten [...] eingerichtet“. Die Erklärung zur Barrierefreiheit muss nach §12b Abs.2, Nummer 3 BGG einen Hinweis auf ein mögliches Schlichtungsverfahren bei Streitigkeiten hinsichtlich der Barrierefreiheit enthalten.
  5. Angemessene Reaktionszeit: Die öffentliche Stelle muss laut §12B Abs.4 BGG binnen vier Wochen auf Anfragen und Mitteilungen zur Barrierefreiheit antworten.
  6. Einrichtung einer Fachstelle: Nach §13 Abs.1 und 2 BGG ist bei der Knappschaft-Bahn-See eine Bundesfachstelle Barrierefreiheit eingerichtet, die zentrale Anlaufstelle zu Fragen der Barrierefreiheit für die Träger öffentlicher Gewalt fungiert. Sie hat darüber hinaus auch die übrigen öffentlichen Stellen des Bundes, die Wirtschaft sowie Verbände und die Zivilgesellschaft auf Anfrage zu beraten.
  7. Einrichtung einer Überwachungsstelle, Monitoring: Bei der Bundesfachstelle Barrierefreiheit wird eine Überwachungsstelle des Bundes für Barrierefreiheit von Informationstechnik eingerichtet (§13 Abs.3 BGG). Das Monitoring beinhaltet die Überprüfung einer Stichprobe von Webseiten und Mobilen Apps öffentlicher Stellen auf Barrierefreiheit – unabhängig davon, ob von Anwenderseite für diese Webauftritte Barrieren gemeldet wurden oder nicht. Details zur Durchführung des Monitorings enthält §8 BITV.
  8. Berichtspflicht:
    • Die obersten Bundesbehörden und die Länder erstatten alle drei Jahre, erstmals zum 30. Juni 2021, der Überwachungsstelle des Bundes für Barrierefreiheit von Informationstechnik Bericht über den Stand der Barrierefreiheit (§12C BGG).
    • Die Überwachungsstelle wiederum erstattet der EU Bericht (§9 BITV).

Mit der harmonisierten EU-Norm EN 301 549 und ihrem inhaltlichen Vorbild, den WCAG 2.1, gibt es verbindliche Kriterien, auf deren Basis Prüfverfahren entwickelt wurden und werden, über die sich der Grad von Barrierefreiheit „messen“ lässt. Zu nennen sind hier der BIK BITV-Test sowie der davon abgeleitete WCAG-Test.

Digitale Barrierefreiheit als Mehr-Ebenen-Ansatz

Barrierefreiheits-Standards wie die WCAG 2.1 oder die EN 301 549 sind nicht einfach nur lange Aufzählungen von technisch formulierten Geboten oder Verboten. Sie verfolgen einen Mehr-Ebenen-Ansatz, der von abstrakt formulierten Barrierefreiheits-Prinzipien auf einer obersten Hierarchie-Ebene über Richtlinien und Erfolgskriterien hin zu technischen Umsetzungsvorschlägen auf einer untersten hierarchischen Ebene führt. Dies ist vor allem deshalb notwendig, weil in das Thema Barrierefreiheit verschiedenste Personengruppen mit unterschiedlichsten Kenntnisständen involviert sind:

  • Sehbehinderte/blinde Nutzer*innen, die auf Barrieren stoßen, diese aber nicht immer exakt beschreiben oder keine Möglichkeiten zu ihrer Beseitigung nennen können, weil sie weder für ihr Hilfsmittel noch für Dokument-, Webseiten- oder Software-Gestaltung Expertise besitzen.
  • „Primärempfänger“, denen Betroffene das Vorhandensein einer Barriere melden: Sekretariatskraft, Callcenter-Mitarbeiter, ...
  • „Vermittler“: Menschen wie Öffentlichkeitsarbeiter*innen oder Teamleiter*innen, die das Vorhandensein einer Barriere zu denjenigen kommunizieren, die die Barriere beseitigen könnten
  • „Techniker“ bzw. „Entwickler“: Diejenigen, die durch Programmierung bzw. dokument- oder Webseitengestaltung die Barriere beseitigen können.
  • „Entscheidungsträger“: Verantwortliche Politiker*innen und Jurist*innen, die Gesetze, Richtlinien und Verordnungen schaffen, um Barrieren zu beseitigen oder gar nicht erst entstehen zu lassen.
  • „Experten“: Menschen mit ausgewiesenen Fachkenntnissen, die Empfehlungen, Richtlinien und Normen entwickeln, damit sie von den Entscheidungsträgern in Kraft gesetzt und von den Technikern bei der (Weiter)-Entwicklung von Software, Dokumenten und Webseiten berücksichtigt werden.

Ein Mehr-Ebenen-Konzept der Barrierefreiheit stellt sicher, dass die „Primärempfänger“, die „Vermittler“ und die „Entscheidungsträger“ vor technischen Details verschont bleiben, und sich umgekehrt die „Techniker“ nicht mit einem theoretischen überbau beschäftigen müssen.

Paradebeispiel für die Beschreibung eines hierarchischen (pyramidenartig aufgebauten) Konzepts der Barrierefreiheit bieten die WCAG 2.1:

  • Auf der obersten Ebene stehen vier Prinzipien der Barrierefreiheit:
    1. Wahrnehmbar,
    2. Bedienbar,
    3. Verständlich,
    4. Robust.
  • Auf der zweiten Ebene gibt es 13 technikneutrale Richtlinien. Jede Richtlinie ist eindeutig einem der vier übergeordneten Prinzipien zugeordnet. Als Beispiel hier die fünf Richtlinien des Prinzips „bedienbar“:
    1. Tastaturbedienbar
    2. ausreichend Zeit, alle Inhalte zu lesen und alle Elemente zu bedienen
    3. Inhalte so gestalten, dass keine Anfälle oder physischen Reaktionen ausgelöst werden
    4. navigierbar: Stellen Sie Mittel zur Verfügung, um Benutzer dabei zu unterstützen zu navigieren, Inhalte zu finden und zu bestimmen, wo sie sich befinden
    5. Eingabemodalitäten: Machen Sie es Nutzern einfacher, Funktionalitäten mit anderen Eingabemethoden als der Tastatur zu bedienen
  • Auf Ebene 3 finden sich 78 normative, testbare, aber immer noch technikneutral formulierte Erfolgskriterien. Jedes Kriterium ist einer der 13 übergeordneten Richtlinien und zusätzlich einer von drei Konformitätsstufen (A, AA, AAA) zugeordnet. Werden alle Kriterien einer Konformitätsstufe und – bei AA und AAA – alle Kriterien der schwächeren Konformitätsstufen erfüllt, so erfüllt die Webseite die entsprechende Konformitätsstufe. Beispiel: Die zehn Erfolgskriterien der Richtlinie 2.4 (navigierbar) lauten:
    1. Textblöcke, die sich auf Mehreren Seiten eines Anbieters wiederholen, müssen übersprungen werden können.
    2. Jede Webseite hat einen Titel.
    3. Die Reihenfolge, in der die Seitenelemente durch Tastatursteuerung den Fokus erhalten (Tabulatorreihenfolge) ist dem Inhalt angemessen.
    4. Der Text eines Links ist so aussagekräftig, dass er auch ohne Kenntnis des Kontexts verständlich ist.
    5. Wenn die Webseite nicht Ergebnis eines Prozesses ist (Beispiel: Suchtrefferseite), dann gibt es mindestens zwei Wege innerhalb des Webangebots, über die sie erreicht werden kann.
    6. Der Zweck des Seiteninhalts und die Aufgabe von Formularfeldern ist durch Überschriften und Labels kenntlich gemacht.
    7. In mindestens einem Bedienmodus muss die Fokusposition dauerhaft sichtbar sein.
    8. Brotkrumen-Navigation: Nutzer sehen auf jeder Seite, in welcher Beziehung diese zu den übrigen Webseiten steht.
    9. Der Zweck eines Links muss aus seinem Text hervorgehen.
    10. Abschnittsüberschriften gliedern den Seiteninhalt.
  • Auf unterster Ebene (Ebene 4) finden sich – derzeit – rund 470 Techniken, die zur Erfüllung eines Erfolgskriteriums eingesetzt werden sollen (ausreichende Techniken) oder können (empfohlene Techniken), aber auch Techniken, die zeigen, wie es gerade nicht gemacht werden soll (Fehlertechniken).

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