Psychische Verarbeitung einer Sehbehinderung

Unterschiede bzgl. der psychischen Verarbeitung einer Sehbehinderung in Abhängigkeit von verschiedenen Augenerkrankungen

In einer psychologischen Untersuchung von 1995 wurde festgestellt, dass die psychische Verarbeitung einer Sehbehinderung unterschiedlich verläuft, und zwar je nachdem, ob der Sehverlust bzw. die Sehverschlechterung langsam oder schnell eintritt, ob am Ende die völlige Erblindung steht oder das Augenlicht noch zumindest stark reduziert erhalten bleibt.

Bei Patienten, die an Retinopathia pigmentosa leiden, kommt es zu Beginn der Erkrankung häufig zu Verleugnungs- oder Bagatellisierungstendenzen, weil ihre Sehschärfe länger noch relativ gut ist. Da die Progredienz der Augenerkrankung schleichend verläuft, also die Gesichtsfeldeinschränkung nach und nach erfolgt, können sich diese Patienten langsam an den immer größer werdenden Gesichtsfeldausfall gewöhnen. Dadurch ist auch das Ausmaß der Traumatisierung, also die seelische Verwundung, reduziert. Die Betroffenen fühlen sich subjektiv nicht oder nur gering eingeschränkt.

Ähnliche emotionale Verarbeitungsprozesse ergeben sich bei einer Makuladegeneration, vor allem wenn es sich um einen fortschreitenden Erkrankungsverlauf handelt.

Patienten nach Augenunfällen sind dagegen mit einer relativ geringen Verleugnungsneigung belastet, da sich die Realität, d.h. der Unfall, nicht beschönigen lässt. Diese Unfallpatienten durchleben den Verarbeitungsprozess ihrer Behinderung in eher kurzer Zeit. Das Unfallopfer ist zunächst in der Regel mehr oder weniger völlig auf die Hilfe anderer Personen angewiesen. Dadurch ist der Betroffene in den ersten Wochen wie gelähmt. Dafür wird ihm nach einer gewissen Zeit klar, dass es keine andere Wahl gibt, als die unfallbedingte Blindheit oder Sehbehinderung zu akzeptieren.

Insulinpflichtige Diabetiker, die ihre Erkrankung schon seit der Jugend haben, bleiben hinsichtlich ihrer drohenden Erblindung infolge einer diabetischen Retinopathie oftmals recht gelassen. Viele halten sich nicht an den ärztlichen Rat (Diät, Änderung des Lebensstils), weil sie die Folgen des Diabetes entweder nicht kennen, akzeptieren wollen oder ernst nehmen. So wird auch die Vorstellung, irgendwann zu erblinden, im Laufe der Zeit gedanklich zwar zur Kenntnis genommen, gefühlsmäßig aber zur Seite geschoben.


Quelle: Merté, H.-J., Friedrich H. & Hahmann R. (1995). Psychische und psychosoziale Besonderheiten bei Blindheit.
In Faust, Volker (Hrsg.), Psychiatrie - Ein Lehrbuch für Klinik, Praxis und Beratung. Gustav-Fischer-Verlag, Stuttgart-Jena-New York