Sehschärfe

Die Sehschärfe (fachsprachlich: Visus) ist ein Maß für die Fähigkeit, Konturen und Muster sehen, erkennen und unterscheiden zu können. Umgangssprachlich gibt also die Sehschärfe das Auflösungsvermögen eines Auges an. Die Sehschärfe kann im Rahmen eines Sehtests mit standardisierten Sehzeichen (Optotypen) ermittelt werden. Eine Sehschärfe von 1,0 gilt als Norm. Insbesondere junge Menschen mit „guten Augen“ können eine noch höhere Sehschärfe haben. Menschen mit einer Fehlsichtigkeit oder einer Sehbehinderung tragen Sehhilfen wie Brillen und Kontaktlinsen, um ihre Sehschärfe zu verbessern. In Deutschland gilt eine Person als gesetzlich sehbehindert, wenn ihre Sehschärfe auf dem besseren Auge und unter Einsatz einer optimalen Sehhilfe weniger als 0,3 beträgt. Ist die Sehschärfe kleiner als 0,05, gilt ein Mensch als hochgradig sehbehindert, bei einer Sehschärfe unter 0,02 als gesetzlich blind. Das Angeben der Sehschärfe in Prozent (beispielsweise 80 % statt 0,8) ist für die meisten Menschen anschaulicher, kann aber fälschlicherweise den Eindruck vermitteln, bei 100 % läge die Maximalsehschärfe.

Zu beachten ist, dass neben der Sehschärfe bei der Beurteilung des individuellen Sehvermögens auch Form und Größe des Gesichtsfelds eine entscheidende Rolle spielen. Auch muss eine geringe Sehschärfe nicht zwangsläufig bedeuten, dass ein Mensch mit Sehbehinderung alles unscharf sieht - es ist lediglich das Auflösungsvermögen für visuelle Details stark herabgesetzt.

Sehschärfe in Zahlen gefasst

Eine Möglichkeit, sich das Auflösungsvermögen des Auges und damit die Sehschärfe zu veranschaulichen, ist die sogenannte Zweipunktschwelle: Wie nah können zwei Lichtpunkte beieinander stehen, so dass sie gerade noch als zwei verschiedene Lichtquellen erkannt werden und nicht als einziger Leuchtfleck. Da das Auge ein Fernsinn ist, ergibt sich zunächst ein Problem mit dem Begriff der Nähe. Es ist nämlich leicht nachvollziehbar, dass die Unterscheidbarkeit zweier Lichtpunkte von zwei Faktoren abhängt:

  1. Dem Abstand, den die Leuchtpunkte voneinander haben: Je weiter die beiden Lichtquellen auseinanderliegen, um so leichter wird es einem sich selbst nicht bewegenden Betrachter fallen, sie als jeweils einzelne Lichtpünktchen erkennen zu können.
  2. dem Abstand zwischen den Lichtpunkten und dem Betrachter: Lässt man den Abstand zwischen den beiden Leuchtpunkten konstant, während sich aber der Betrachter bewegen darf, so wird ihm die Unterscheidung der Lichtpünktchen um so leichter fallen, je näher er an die Lichtquellen herantritt.

Die beiden verschiedenen Manipulationen haben jedoch den selben Effekt: Sie verändern den sogenannten scheinbaren Abstand der beiden Pünktchen voneinander. Dieser Abstand wird nicht in Zentimetern sondern in Winkelgrad (Grad) gemessen: Man denkt sich einen geradlinigen Lichtstrahl von jedem der beiden Pünktchen zum Auge. Die beiden Lichtstrahlen stellen Geraden dar, die in ihrer jeweiligen Lichtquelle ihren Anfang nehmen und im Auge einen gemeinsamen Endpunkt haben. Da die Lichtquellen verschiedene Positionen haben, laufen die beiden gedachten Lichtstrahlen nicht parallel, sondern sie treffen sich im Auge unter einem bestimmten Winkel. Dieser Winkel kann unter zwei Bedingungen größer werden:

  1. Wenn der Abstand der Lichtpünktchen zueinander vergrößert wird, während sich der Beobachter selbst nicht bewegt,
  2. wenn sich der Beobachter den Lichtpünktchen nähert, während diese ihre Position beibehalten.

Die Größe eines Winkels wird in (Winkel)grad gemessen. Der Kreis (eine Volldrehung) ist dabei in 360 Grad eingeteilt. Wird eine noch feinere Einteilung benötigt, lässt sich jedes Grad seinerseits in 60 Winkelminuten (Bogenminuten) zerlegen.

Ein Auge hat eine Sehschärfe von 1,0, wenn es zwei Punkte, die einen scheinbaren Abstand von einer Bogenminute haben, als gerade noch getrennt wahrnehmen kann. Der scheinbare Abstand wird auch als Sehwinkel bezeichnet.

Ein Sehwinkel von einer Bogenminute lässt sich simulieren, indem zwei Lichtpunkte, die 1,45 Millimeter weit auseinanderliegen, 5 Meter vor dem Betrachter auf eine Wand projiziert werden. Eine Person, die die beiden Punkte unter diesen Bedingungen gerade noch als getrennte Lichtquellen wahrnehmen kann, verfügt über eine Sehschärfe (einen Visus) von 1,0. Jemand, der sich den Punkten bis auf 2,5 Meter (die Hälfte der Entfernung) nähern muss, um sie gerade eben noch als getrennte Lichtquellen unterscheiden zu können, verfügt auch nur über die Hälfte der Sehschärfe, also 0,5 oder 50 %.

Die praktische Bestimmung der Sehschärfe

Leuchtpunkte mit festgelegtem Abstand stellen eine einfache Möglichkeit dar, sich das Konzept der Sehschärfe zu veranschaulichen. Die tatsächliche Bestimmung der Sehschärfe im Rahmen eines Sehtests erfolgt jedoch nicht mit Hilfe von Lichtpunkten, sondern mit praxisnäheren Sehzeichen:

  • Besonders verbreitet und als einziges Sehzeichen genormt ist der Landolt-Ring. Diese vom schweizer Augenarzt Edmund Landolt eingeführten Symbole sind Kreisringe mit einer Lücke. Ringbreite und Lückengröße sind dabei genau festgelegt. Die Ringe werden in acht Stellungen präsentiert, die jeweils um 45 Grad gegeneinander verdreht sind. Dadurch kann die Ringöffnung nach oben, oben rechts, rechts, unten rechts, unten, unten links, links und oben links zeigen. Die Richtung, in die die Lücke weist, muss erkannt werden.
  • Insbesondere bei Kindern eingesetzt werden auch die Snellen-Haken. Diese vom niederländischen Augenarzt Herman Snellen entwickelten Optotypen sind wie der lateinische Großbuchstabe „E“ mit gleichlangen Querstrichen geformt. Die Richtung, in die die Querstriche des „E“ (die Haken) zeigen, muss dabei erkannt werden. Eine leichte Abwandlung der Snellen-Haken sind die Pflüger-Haken, bei denen der mittlere E-Querstrich kürzer ist als die Äußeren.
  • Sehprobentafeln sind rechteckige Tafeln, auf denen vor weißem Hintergrund von oben nach unten Zahlen und/oder Buchstaben in kleiner werdender Schriftgröße aufgedruckt sind. Die Schriftzeichen sind beim Sehtest vom Patienten vorzulesen.
  • Insbesondere zur Bestimmung des Nahvisus im Sehabstand von 33 Zentimetern werden Text-Tafeln mit unterschiedlicher Schriftgröße eingesetzt, beispielsweise die Nieden-Leseprobe.

Faktoren, die die Sehschärfe beeinflussen

Ein Blick auf Bau und Funktion der lichtbrechenden Strukturen des Auges einerseits und der Netzhaut andererseits zeigt, dass die Sehschärfe von mehreren Faktoren abhängig sein muss:

  1. Helligkeit bzw. Beleuchtungsverhältnisse: Die Netzhaut besitzt zwei unterschiedliche Typen von Sehsinneszellen: Die für das Sehen von Details und Farben bei Tage verantwortlichen Zapfen sowie die für das Sehen bei Dämmerung zuständigen Stäbchen. Die Stäbchen stehen auf der Netzhaut nicht so dicht wie die Zapfen. Außerdem sind die Stäbchen aufgrund ihrer Verantwortlichkeit für das Dämmerungssehen weitaus lichtempfindlicher - in der Dämmerung werden die Zapfen inaktiv. Darum kann aus rein physiologischen Gründen die Dämmerungssehschärfe maximal 0,1 (10 %) betragen. Es ist also eine Tagessehschärfe und eine Dämmerungssehschärfe voneinander zu unterscheiden.
  2. Art und Weise der Fixierung: Zapfen und Stäbchen sind unterschiedlich über die Netzhaut verteilt: Stäbchen finden sich hauptsächlich in den Randbereichen der Netzhaut, während die Netzhautmitte, die Makula, fast ausschließlich von Zapfen besiedelt ist. Da die Zapfen für Farben und Details zuständig sind, ist die Makula die Region des scharfen Sehens, und die Sehschärfe nimmt auf ganz natürliche Weise zu den Netzhautrandbereichen hin ab. Deshalb werden Gegenstände normalerweise so angeschaut, dass ihr Bild auf die Netzhautmitte fällt. Dies nennt man zentrische Fixierung. Bei intakter Netzhaut erzielt man mit Hilfe einer zentrischen Fixierung die persönliche maximale Sehschärfe. Sind die Zapfen jedoch beispielsweise durch eine Makuladystrophie geschädigt, ist es möglich, dass die Netzhautrandbereiche über eine größere Sehschärfe verfügen als die Netzhautmitte. Würde ein solcher Patient im Rahmen einer Sehschärfenbestimmung zur zentrischen Fixierung gezwungen besteht die Gefahr, seine Sehschärfe zu unterschätzen. Bei exzentrischer Fixierung kann evtl. eine höhere Sehschärfe erzielt und gemessen werden.
  3. Distanz zwischen Betrachter und Gegenstand: Um Gegenstände in verschiedenen Entfernungen scharf auf der Netzhaut abbilden zu können, muss das Auge seine Brechkraft aktiv anpassen. Dieser Vorgang wird als Akkommodation bezeichnet. Eine junge Person mit sogenannt rechtsichtigen Augen kann Gegenstände im Abstand zwischen wenigen Zentimetern und vielen Metern mit Hilfe von Nah- und Fernakkommodation scharf sehen. Liegt aber eine Fehlsichtigkeit wie etwa eine Kurzsichtigkeit, eine Weitsichtigkeit oder Alterssichtigkeit vor, werden Gegenstände nicht in allen Entfernungen scharf gesehen. Bei einer Weitsichtigkeit beispielsweise können nahe Objekte nicht mehr scharf gesehen werden. Die gemessene Sehschärfe wird höher ausfallen, wenn das zu betrachtende Sehzeichen weit entfernt ist. Um dies zu berücksichtigen, werden der Nah- und der Fernvisus im Rahmen eines Sehtests getrennt voneinander bestimmt.
  4. Korrigiert oder unkorrigiert: Fehlsichtigkeiten werden in der Regel mit Brillen oder Kontaktlinsen ausgeglichen. Auch Menschen mit einer Sehbehinderung tragen in der Regel eine Sehhilfe. Bei der Bestimmung der Sehschärfe muss also immer festgehalten werden, ob sie unkorrigiert (ohne Einsatz einer Sehhilfe) oder korrigiert (mit Einsatz einer Sehhilfe) gemessen wurde. In Gutachten finden sich hierzu die Abkürzungen s.c. (sine correctione = ohne Korrektur) und c.c. (cum correctione = mit Korrektur).

Weiterführende Informationen

Filme und Simulationen